Die DDR war ein Unrechtsstaat

War die DDR ein Unrechtsstaat? Die Frage wird von Medien, Politikern und Öffentlichkeit häufig diskutiert. Dabei war in der DDR von Rechtsstaatsprinzipien nichts übrig geblieben. Woher also kommt die oft positive Bewertung der DDR?

Pünktlich zum 70. Jahrestag der DDR bzw. zur 30. Wiederkehr ihres staatlichen Endes flammte der öffentliche Streit darüber, ob die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet werden könne, neuerlich auf. Im Vorfeld der Thüringer Landtagswahl 2019 wurde die Kontroverse um die Anwendbarkeit des Begriffs vor allem als politischer Schlagabtausch geführt. Für die Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) war die DDR „eindeutig kein Unrechtsstaat“. Der Begriff lege nahe, „als sei das ganze Leben Unrecht gewesen. Wir brauchen aber mehr Respekt vor ostdeutschen Lebensleistungen“ (Spiegel Online. 7. Oktober 2019). Deutlicher als noch fünf Jahre zuvor ging auch ihr Amtskollege Bodo Ramelow (Thüringen) auf Distanz zu dem Begriff. Ramelow kritisierte dessen instrumentelle Anwendung und wandte sich dagegen, den Begriff Unrechtsstaat im Rechtssinn auf die DDR universell anzuwenden (Bekenntnisrituale, Tagebucheintrag 10. Oktober 2019). Von den CDU-Politikern Michael Kretschmer (Sachsen) und Mike Mohring (Thüringen) wiederum kam entschiedener Widerspruch (Berliner Morgenpost 8. Oktober 2019). Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, der DDR-Bürgerrechtler Roland Jahn, bekräftigte im Rundfunkinterview, der Begriff Unrechtsstaat treffe „das Wesen dieses Staates, die SED hat alle staatlichen Organe genutzt, um ihre Macht durchzusetzen.“ Es sei mit Hilfe dieser staatlichen Organe Unrecht geschehen (NDR 7. Oktober 2019).

Im Frühjahr 2009, fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, war erstmals eine heftige öffentliche Debatte geführt worden, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Die Auffassungen dazu waren schon damals kontrovers: Für den damaligen Linke-Fraktionschef Gregor Gysi war die DDR „zwar eine Diktatur ohne demokratische Kontrolle und kein Rechtsstaat“; wohl gab es in ihr „auch Unrecht, sie war aber kein Unrechtsstaat“ (MZ, 21.4.2009). Bundeskanzlerin Merkel (CDU) hingegen bejahte die Bezeichnung Unrechtsstaat (FAZ, 11.5.2009), ebenso ihr Kabinettskollege Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD). Merkel betonte, die DDR sei schon auf Unrecht gegründet worden und hätte ohne Angst und Lüge nicht überleben können. Der Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, Erwin Sellering (SPD), verwahrte sich wiederum dagegen, „die DDR als totalen Unrechtsstaat zu verdammen, in dem es nicht das kleinste bisschen Gutes gab“ (FAZ.NET, 12.5.2009).

Andere prominente SPD- Politiker unterschieden „zwischen dem gescheiterten System und den Menschen“ (Peter Struck, SZ 11.-13.4.2009). „Die allermeisten Menschen, die in der DDR gelebt haben, hatten keinen Dreck am Stecken“ (Franz Müntefering, SZ 14.4.2009). Ähnlich urteilte Wolfgang Thierse, damals Bundestagsvizepräsident: Die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen und gescheitert, ihre Bürger aber seien nicht gescheitert (SZ 11.-13.4.2009). Andreas Voßkuhle schließlich, seinerzeit Vizepräsident und heute Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sagte, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, der nicht verharmlost werden dürfe. Doch hätten „die Menschen dort auch schöne Momente erleben“ können (SZ, 11.-13.4. 2009).

Auch einstige Bürgerrechtler waren sich nicht einig. Der Theologe Friedrich Schorlemmer etwa warnte, gegen Merkel gewandt, davor, mit dem Begriff Unrechtsstaat die DDR zu dämonisieren. So werde man dem wirklichen Leben in dem untergegangenen Staat nicht gerecht. Anders sah dies Joachim Gauck, ebenfalls Theologe, bis 2000 Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen und nachmals Bundespräsident:

„Der Begriff trifft zu, weil es in der DDR keine Unabhängigkeit der Justiz gab, keine Gewaltenteilung. Es gab keine Herrschaft des Rechts, weil eine Instanz wie die herrschende SED in den Bereich des Rechts eingreifen konnte. Nicht jedermann konnte das, aber die zentralen Führungsinstanzen der Partei sehr wohl.
Zudem war es unmöglich, staatliches Handeln auf dem Gerichtsweg anzugreifen, man hätte dazu die Verwaltungsgerichte gebraucht. Aber die gab es ebenso wenig wie ein Verfassungsgericht. Man konnte allerdings, wie im Feudalismus, Eingaben an die Herrschenden richten und appellieren: Hier geschieht Unrecht. Und dann hatte man vielleicht Glück. Oder eben nicht. Das spricht alles dafür, das Regime der DDR ein Unrechtsregime zu nennen, auch wenn es im Land zum Beispiel ein Zivil- und ein Verkehrsrecht gegeben hat, was die Verteidiger der DDR immer wieder anführen.“ (Mitteldeutsche Zeitung vom 18.4.2009)

Fünf Jahre später, im Herbst 2014, entzündete sich die Kontroverse um das vergangenheitspolitische Reizwort Unrechtsstaat erneut, diesmal im Vorfeld der Bildung einer rot-rot-grünen Koalition in Thüringen. Die künftigen Koalitionspartner hatten folgende „Protokollnotiz“ in ihren Koalitionsvertrag geschrieben: „Weil durch unfreie Wahlen bereits die strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handels fehlte. Weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn es einer der kleinen oder großen Mächtigen so wollte. Weil jedes Recht und Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten, war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat“ (zitiert nach Mitteldeutsche Zeitung vom 4.9.2014).

Dagegen bezogen wiederum Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer Gegenpositionen. Beide kritisierten, dass das Verdikt Unrechtsstaat die DDR bzw. „alles, was in der DDR gewesen ist“ (Schorlemmer), vollständig delegitimiere. Ein Unrechtsstaat, sagte Gysi, „das ist für mich der Hitlerstaat“. Für Schorlemmer erdrückte die „Generalverdammungskeule Unrechtsstaat“ jedwede differenzierende Sicht und damit die Möglichkeit, „gelebtes Leben nicht als verlorene Zeit zu verwerfen“ (Zitate nach Süddt. Zeitung vom 1.10. und 25./26.10.2014).

Für die Bewertung, ob Unrechtsstaat oder nicht, ist in der Tat die Perspektive entscheidend. Das heißt, ob sich der Blick auf das System bzw. Regime des SED-Staates oder auf die subjektiv erlebten Lebenswelten richtet. Was das Leben in der DDR angeht, urteilten Ostdeutsche, wie nachstehende Abbildung zeigt, 20 Jahre nach dem Mauerfall mehrheitlich wohlwollend. Insgesamt 57 Prozent stimmten 2009 der Lesart zu, die DDR habe „mehr gute als schlechte“ oder sogar „ganz überwiegend gute“ Seiten gehabt. Dahinter steht die subjektive Gewissheit, in der DDR sei ein „gelungenes Leben“ (so der sachsen-anhaltische CDU-Politiker Jürgen Scharf am 23. Mai 2009 im Landtag) durchaus möglich gewesen. Wer unter schwierigen äußeren Bedingungen ´seinen Mann gestanden` hat, will sich diese Lebensleistung nicht rückwirkend madig machen lassen – schon gar nicht von jenen, die, wie die Westdeutschen, nicht selbst dabei waren. „Denn die ehemaligen DDR-Bürger müssten es ja aus eigener Erfahrung besser wissen“ (Leserbrief in der Mitteldeutschen Zeitung, Halle).

Persönliche Lebensgeschichte, gesellschaftliches Leben und Staatstätigkeit schieben sich in der Rückschau auf die DDR aus Sicht vieler Ostdeutscher bis heute übereinander. Die eigene Biographie wird von den älteren Generationen als ein authentischer und unablösbarer Teil der damaligen Zeiten empfunden. Die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen hieße folglich, zugleich individuelle Lebensläufe zu entwerten.

https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47560/unrechtsstaat

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